Dr. Philipp Blom:

„Unsere Demokratien sind am Verrotten“

Philipp Blom, 2021, Wien, Copyright www.peterrigaud.com

Philipp Blom studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford. Zu den bekanntesten Büchern des preisgekrönten Bestsellerautors zählen „Der taumelnde Kontinent“ (2009), „Böse Philosophen“ (2011) und „Was auf dem Spiel steht“ (2017). Im Sommer 2023 ist sein neues Werk „Aufklärung in Zeiten der Verdunkelung“ erschienen.

DIE FURCHE: Herr Blom, in Ihrem neuen Buch analysieren Sie die Gegenwart als „Zeit der Verdunkelung“. Was hat Sie so düster gestimmt?

Philipp Blom: „Verdunkelung“ ist eine Übersetzung aus dem Englischen, der Gegensatz von „Enlightenment“, und eine wirklich schöne Wortschöpfung. Ich mache mich stark dafür, dass die Verdunkelung heute aus grell beleuchteten Wänden besteht. Klingt zunächst absurd, aber vor lauter Leuchteffekten sieht man vieles nicht mehr. Früher war Aufklärung der Kampf für Gleichheit und Rationalität, gegen Kirche und Adel. Die historische Aufklärung ist freilich kompromittiert durch den Imperialismus und die Sklaverei, die sie zum Teil unterstützt hat. Warum aber Verdunkelung? Beim Schreiben kam mir ein Bild in den Kopf. Ich denke gern mit Bildern, und genau dieses schien die Frage zu beantworten: ein Supermarkt.

Was haben Aufklärung und Verdunkelung mit einem Supermarkt zu tun?

Das ist der einzige Ort, wo Städter(innen) noch täglich den Produkten der Natur begegnen. Gleichzeitig ist es ein Ort, der uns durch Täuschungen zu überzeugen versucht. Eine Illusionsmaschine, in der die Kühe lila und die Bauern fröhlich sind und der Kaffee von lächelnden Indios geerntet wird. Das verstellt den Blick auf die Realität der schwindenden Biodiversität, der verödeten Felder, der Tierfabriken etc. Tatsächlich ist die Welt in einem dramatischen Zustand, und wir müssen uns entscheiden, wie wir künftig leben wollen. Im Supermarkt ist das nicht möglich. Es gelingt erst, wenn wir diesen Schleier durchbrechen und die Welt so sehen, wie sie ist. Genau das ist die Aufgabe einer neuen Aufklärung.

Spannend, dass Sie einen Ort des Alltags als Leitmotiv gewählt haben. Bei Verdunkelung hätte ich zuerst an die Strategien autoritärer Regime gedacht, an russische Propagandakanäle, Desinformationskampagnen, Wissenschaftsfeindlichkeit und gezielt verbreitete Fake News …

Das alles ist Teil dieser Verdunkelung, denn es bewirkt ja dasselbe: Es will uns überzeugen, dass die Welt völlig anders ist als in Wirklichkeit. Aber diese Verdunkelung funktioniert jetzt auch mit grellen Lichtern und schönen Geschichten, welche die dahinterliegende Welt verbergen. Zumal jede Täuschung auch eine Selbsttäuschung ist. Wir lassen uns gerne täuschen, weil wir dadurch billige Produkte erhalten. Wir machen mit bei diesem Spiel, weil es bequem ist. Deshalb ist zu fragen, was die revolutionären Slogans der Aufklärung heute bedeuten könnten.

Sie kommen in Ihrem neuen Buch mehrmals auf Bruno Latour zu sprechen, der zuletzt ein ökologischer, man könnte sagen „planetarer Denker“ geworden ist. Und der die alten Begriffe Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auf die Sphäre der Natur ausgedehnt hat, also auch auf nichtmenschliche Lebewesen …

Das ist eine ganz wichtige Stoßrichtung. Gleichheit war eine abenteuerliche, ja skandalöse Behauptung im 17. und 18. Jahrhundert, weil alle Menschen wussten, die moralische Ordnung beruht auf Ungleichheit – darauf, dass ein Mann besser ist als eine Frau, ein Adeliger besser als ein Bauer etc. Was einst ein Angriff auf die gesellschaftliche Ordnung war, ist heute ein ganz gewöhnlicher Gedanke. Angesichts neuer Erkenntnisse in der biologischen Forschung sieht man nun, dass Menschen und Tiere „gleicher“ sind als bisher angenommen. Es gibt verblüffend ähnliche soziale Strategien, und wir teilen mehr als 98 Prozent unserer DNA mit Schimpansen. Jetzt ist es Zeit für einen weiteren revolutionären Schritt: Sollte das Gleichheitsprinzip nicht weiter reichen als nur bis zum Homo sapiens?

Die große Frage ist, was das in der Praxis bedeuten könnte. In Österreich wird nach wie vor viel Fleisch gegessen. Zudem gibt es das Problem des Billigfleisches, das aus Betrieben kommt, in denen Tierwohl keine Rolle spielt. Wie also könnten diese kühnen Gedanken auf den Boden gebracht werden?

Wenn einem Tier das Recht zugesprochen wird, nicht grausam behandelt zu werden, dann tangiert das unser vermeintliches Recht auf ein tägliches Schnitzel. Kein Hase hat ein Recht, nicht gefressen zu werden. Das heißt umgekehrt, vielleicht haben wir auch kein Recht auf so viel Fleisch. Vielleicht ist es nicht sinnvoll, dass wir pro Jahr zigtausende Land­tiere abschlachten. Vielleicht kann man den Fleischverzehr sinnvoll begrenzen. Das heißt nicht, dass wir alle vegan essen müssen. Aber wenn rund drei Viertel aller landwirtschaftlichen Produkte nur als Tierfutter dienen, dann könnte man doch an dieser Schraube drehen.

Wenn wir diese Pflanzen selbst essen würden, hätten wir mehr Nahrungsmittel und könnten künftige Knappheiten verhindern. Man könnte das Prinzip sogar noch weiter ausdehnen: In Ecuador und Neuseeland gibt es bereits Flüsse, die als Rechtsperson anerkannt werden. Das ist so, wie auch eine Firma gesetzlich verankert ist. Auf diese Weise kann man die Rechte der Natur schützen und verteidigen – eine logische Konsequenz der Aufklärung.

Kommen wir zum aufklärerischen Begriff der Freiheit. Sie interpretieren ihn heute im Sinne der „geistigen Autonomie“: Angesichts der vielen Verführungen im Info-Dschungel sollen Menschen befähigt werden, einen kühlen Kopf zu bewahren und sich eine fundierte Meinung zu bilden …

Natürlich können wir nicht autonom sein in Bezug auf Essen oder Atmen, aber wir können doch versuchen, zumindest unser Weltbild selbstbestimmt zu formen. Digitale Technologien sind sehr effizient darin, uns abhängig zu machen. Genau dafür wurden sie designt, wie viele Firmen ganz klar sagen. Es gibt etwa lange psychologische Versuchsreihen, damit Leute mehr Zeit auf Facebook verbringen. Das läuft über die Provokation emotionaler Erregung. Das ist ganz anders, als wenn ein Buch geschlossen vor mir liegt und nichts von mir will. Geistige Autonomie wird zu einer dringlichen Aufgabe, um überhaupt noch über die Welt nachdenken zu können.

Aber ohne eine Form von geistiger Praxis ist das wohl nur schwer möglich. Es braucht viel Training, um eingefahrene Gewohnheiten zu überwinden. Wenn es darum geht, die geistige Autonomie zu fördern, denkt der Philosoph Thomas Metzinger vor allem an eine „weltanschaulich neutrale“, säkulare Achtsamkeitsmeditation. An welche Praxis würden Sie denken?

In unserer durchdigitalisierten Welt hängen viele Menschen, leider auch viele Kinder und Jugendliche, nur noch vor den Bildschirmen. Man hat das Gefühl, dass sie sich ihres Körpers gar nicht mehr bewusst sind. Sie sind reduziert auf die Finger, die die Maus kontrollieren, und auf das, was über die Screens in ihren Kopf fließt. Sie begeben sich in eine Realität, die zu Profitzwecken gemacht wird, um Menschen wie magisch in den Bann zu ziehen.

Welche Praktiken also könnten hilfreich sein, um dem etwas entgegenzusetzen? Ich bin seit meiner Kindheit ein Musiker und handwerklich orientierter Mensch. Die einzige Art von sinnvoller Autonomie, die ich mir vorstellen kann, hat mit unserem „analogen“ Körper zu tun. Dorthin müssen wir die Dinge immer wieder zurückbringen. Das ist der Anfang allen Lebens und Denkens. Von da aus können wir Eigenständigkeit entwickeln: körperlich zu lernen, die eigenen Grenzen erst einmal zu erkennen und dann auszuweiten.

Ganz egal, ob man Musik macht, Marathon läuft oder tanzen geht, wird man dazu neigen, sich dabei mit anderen Menschen zu verbinden. So entsteht echte Gemeinschaft. Diese Art von Autonomie, die mit dem Körper anfängt, wird angesichts der Digitalisierung ganz entscheidend sein.

Meinen Sie nicht, dass im Diskurs der Aufklärung unser Gefühlsleben zu kurz kommt? Geistige Autonomie würde ja auch bedeuten, in der Reaktion auf Gefühle wie Wut, Angst, Neid oder Gier eine größere Entscheidungsfreiheit zu haben. Hat die Aufklärung bislang nicht zu sehr auf Vernunft und Intellekt fokussiert und viel zu wenig auf unser emotionales Er­leben, das doch essenziell dafür ist, wie wir die Welt überhaupt sehen?

Völlig richtig, in der Rezeption der Aufklärung ist die Präsenz des Körpers leider verlorengegangen. Körper und Geist sind Wörter für zwei Aspekte desselben Phänomens. Man kann den einen nicht ohne den anderen treffen. Ein unbeseelter Körper ist eine Leiche. Und eine Seele ohne Körper ist ein Schlossgespenst. Natürlich gehört das zusammen!

Wenn heute von „Aufklärung“ die Rede ist, meint man meist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts, wo Professoren mit langen Bärten zusammengekommen sind und philosophische Geschichten geschrieben haben. Doch die Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert war sehr divers. Eigentlich müsste man den Begriff im Plural gebrauchen. Es gab verschiedenste Richtungen unter unterschiedlichen politischen Verhältnissen. Von den milden Religionsreformern bis zu den harten Atheisten und Materialisten war da vieles versammelt. Es war eine revolutionäre Bewegung des aufstrebenden Bürgertums, das die Privilegien von Adel und Kirche hinterfragte.

Im 19. Jahrhundert ist das Bürgertum selbst zur herrschenden Klasse geworden. Das heißt, in der Rückschau brauchte man nicht eine revolutionäre Idee, sondern einen soliden Gründungsmythos. Und der wird dann eben zusammengestellt – von Descartes über Voltaire bis zu Kant. Was man dabei vergisst, sind die radikalen Aufklärer jenseits des Rationalismus. Das sind Leute wie Denis Diderot oder Julien Offray de La Mettrie, die von vornherein gesagt haben, Menschen sind keine Vernunftwesen. Laut Diderot ist das Lebensziel die volupté, also wohl eigentlich der Orgasmus. Die rationalistische Aufklärung, die Menschen wie wandelnde Gehirne auf Stelzen sieht, ist mir zu theologisch geprägt. Sie passt nicht wirklich zur naturwissenschaftlichen Einsicht, dass der Homo sapiens aus dem Reich der Primaten hervorgegangen ist. Die Denktradition, auf die ich mich beziehe, ist viel breiter und aufregender.

Kommen wir zurück zum Thema des heurigen Philosophicum in Lech: Wo sehen Sie politisch und gesellschaftlich Anlass zur Hoffnung?

Hoffnung, was ist das eigentlich? Im Sinne unseres Konsumentenlebens handelt es sich eigentlich um Optimismus. So gesehen gibt es derzeit keinen Anlass zur Hoffnung. Wir leben in einer Zeit, wo sich immer mehr Menschen abgehängt fühlen, wo die Antworten von gestern für die Zukunft unbrauchbar geworden sind und wo eine drohende Klimakatastrophe unser ganzes Wirtschaftsmodell infrage stellt. Außerdem schleicht sich das Gefühl ein, dass unsere Demokratien langsam verrotten. Sie haben es zugelassen, dass mit den Superreichen eine eigene Aristokratie entstanden ist, die nach eigenen Gesetzen funktioniert und unverhältnismäßigen Einfluss auf die demokratische Entscheidungsfindung hat.

In unseren Gesellschaften kann man nicht mehr durch Fleiß und Arbeit zum Status der Erben aufschließen. Das befeuert die populistische Wut, weil sich viele nicht nur marginalisiert und ausgeschlossen erleben, sondern auch für dumm verkauft. Und zum Teil stimmt das ja auch. Wir wissen, dass die Finanzmärkte seit den 1980er Jahren enorme Profite abgeworfen haben. Wir wissen auch, dass seit damals die durchschnittlichen Löhne mehr oder weniger stagnieren. All diese Faktoren tragen dazu bei, dass die Demokratien heute zunehmend unter Druck geraten.

In diesem Sommer haben wir auch wieder erlebt, wie stark die Natur unter Druck kommt aufgrund der klimatischen Veränderungen: Hitzewellen und Extremwetterereignisse machen auch vor Europa nicht halt …

Die Klimakrise wird mehr Migration schaffen, die globalisierten Handelsnetzwerke treffen und zu Nahrungsmittelunsicherheit führen. Tatsächlich gehen wir auf keine guten Zeiten zu. Wenn es aber um existenzielle Hoffnung geht, dann hoffen Menschen gerade dann, wenn das Leben am schwersten ist. In der Ukraine wird derzeit sicherlich viel gehofft, obwohl völlig unklar ist, wie dieser Krieg ausgehen wird.

Wir erleben gerade das Ende dieser seltsamen „Ferien von der Geschichte“, die der „Westen“ nach 1945 gemacht hat. Krieg und Zerstörung passierten zwar weiterhin, aber nicht in Europa. Jetzt kommen diese Dinge zurück. Das heißt, wir leben jetzt wieder, wie bisher fast alle unsere Vorfahren gelebt haben – in Zeiten radikaler Unsicherheit. Doch selbst unter den schwierigsten Umständen haben Menschen es geschafft, Sinn und Hoffnung zu finden. Schwarz sehe ich nur in Bezug auf unsere angelernte Konsumentenhoffnung: „Ich habe ein Recht darauf, dass mir nichts passiert, und deswegen kann auch gar nichts passieren.“ Diese Hoffnung wird sicherlich enttäuscht.

Das Gespräch mit Philipp Blom führte Martin Tauss, DIE FURCHE:

https://www.furche.at/wissen/philipp-blom-unsere-demokratien-sind-am-verrotten-11808395

Website von Philipp Blom: https://www.philipp-blom.eu/