Dr. Fred Luks in „Die Furche“:

Ökonomie der Großzügigkeit: Das nachhaltige Füllhorn

Unsere Zeit ist von Unsicherheit und Orientierungslosigkeit geprägt. Es wird immer klarer, dass die Klimaerwärmung desaströse Folgen hat, wenn nicht entschlossen gegengesteuert wird. Die Digitalisierung der Wirtschaft und des Lebens schreitet scheinbar unaufhaltsam voran – mit nicht nur erheblichen wirtschaftlichen und sozialen Folgen, sondern auch mit ökologischen Konsequenzen: Digitale Technologien sind eben nicht „virtuell“, sondern fußen auf einem massiven Verbrauch von Material und Energie. Und mit dem russischen Angriff auf die Ukraine ist deutlich geworden, dass das Undenkbare möglich ist: ein Krieg mitten in Europa.

Diese Situation, die oft als „Polykrise“ bezeichnet wird, stellt das westliche Wohlstandsmodell grundsätzlich in Frage. Ein Wohlstand, der auf billiger fossiler Energie und der massiven Übernutzung der Natur basiert, ist nicht haltbar. Unsere Wirtschafts- und Lebensweise kommt an ihr Ende. Wer die herrschende Nicht-Nachhaltigkeit überwinden und eine zukunftsfähige Gesellschaft will, kommt daher nicht daran vorbei, die mit dieser Lebensweise verbundenen Normalitäten zu hinterfragen. Das gilt zum Beispiel für die Umweltpolitik, den Umgang mit Tieren oder für etablierte wirtschaftliche Leitbilder wie Wachstum und Effizienz.

Orientierung am rechten Maß

Aber wie kann es anders gehen? Ich behaupte: mit Großzügigkeit. Damit ist nicht (nur) das großherzige Verschenken von Geld für gute Zwecke gemeint, sondern vor allem eine Orientierung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Prozesse am rechten Maß. Ein solches Maß navigiert zwischen den Extremen Geiz und Verschwendung. Großzügigkeit als gesellschaftliches Leitbild steht damit wesentlich für eine Kritik am Leitbild der Effizienz. Die Orientierung an diesem Leitbild scheint normal und selbstverständlich – aber bei genauer Betrachtung ist sie eine Falle.

Eine auf Effizienz gepolte Gesellschaft riskiert ökologische Nicht-Nachhaltigkeit und eine Dauerüberforderung ihrer Mitglieder.

Effizienz, so formuliert es der Philosoph Ralf Konersmann, „ist ein Maß ohne Maß – ein Maß, das alles Handeln der Erwartung unterstellt, dass man die Schraube immer weiter drehen kann und die Optimierung keine Grenzen kennt. Die Welt der Effizienz ist eine Welt der Komparative.“ Dass diese Komparative (Anm.: „Vergleiche“) prinzipiell auf Steigerung (Anm.: mehr, besser, billiger, effizienter,…) angelegt sind und dass dies in einer endlichen Welt zum existenziellen Problem wird, ist eine der Hauptursachen für die gegenwärtige Nicht-Nachhaltigkeit und eine der Hauptbegründungen für die Großzügigkeit.

Die Probleme mit der Effizienz haben zwei Seiten: Sie leistet nicht, was sie zu leisten verspricht – und ihre erheblichen Nebenwirkungen lassen es höchst notwendig erscheinen, ihrer Dominanz entgegenzutreten. Dass Effizienz gleichsam ein falsches Versprechen ist, zeigt sich an vielen sozialen, ökologischen und ökonomischen Themen. Für die Wirtschaftswissenschaft ist Effizienz natürlich ein klassisches Thema, aber auch außerhalb des Wirtschaftlichen wird regelmäßig darauf gesetzt, dass ein effizienterer Umgang mit Ressourcen, mit Zeit, mit Menschen ein Gebot der Vernunft sei. Bei genauer Betrachtung zeigt sich, dass das nicht selten ins Leere läuft: Effizienzgewinne im Kleinen können zu Steigerungen des Gesamtverbrauchs führen – „Rebound-Effekt“ nennt man das.

Der Effizienz wird also in gewisser Weise zu viel zugetraut. Und: Die Nebenwirkungen einer weit verbreiteten Effizienzorientierung betreffen wesentlich die Lebensqualität, die durch eine digital befeuerte Selbstoptimierung bedroht ist. Eine auf Effizienz und Expansion gepolte Gesellschaft riskiert nicht nur ökologische Nicht-Nachhaltigkeit, sondern auch eine Dauerüberforderung ihrer Mitglieder. Darüber hinaus ist sehr grundsätzlich zu fragen, ob das Leitbild der Effizienz, das mittlerweile so viele Bereiche der Gesellschaft dominiert, überhaupt noch zeitgemäß ist. Wie gesagt: Auf einem begrenzten Planeten wird es zum Problem, dass sie stets auf ein Mehr hinausläuft – die Orientierung an Produktivität und Effizienz ist eine Orientierung an einem Leitbild der Steigerung, der Expansion, der Ausweitung.

Hoffnung auf politische Wunder

Eine Ökonomie der Großzügigkeit bietet eine Mittelposition, die auf ein rechtes Maß zwischen überzogener Effizienzorientierung und moralisierender Konsumeinschränkung hinausläuft, ohne diese Positionen zu verabsolutieren. Es geht also darum, mit dem Leitbild der Großzügigkeit eine bislang kaum erwogene Idee stark zu machen: ohne den Glauben, am Schreibtisch Geschichte machen zu können, und ohne die Hoffnung, diese Idee wäre „die“ Lösung – aber doch in dem Wissen, dass es politische Wunder geben kann und in der Hoffnung, dass sich unser derzeitiger gesellschaftlicher und ökologischer Ausnahmezustand zum Besseren wenden lässt. Der Weg zur Großzügigkeit kann zweifellos nur ein experimenteller Weg sein – ein Such- und ein Lernprozess.

Aber ist das nicht völlig naiv? Leben wir nicht in einer Welt, in der Geiz als „geil“ gilt und die gleichzeitig vor Verschwendung nur so strotzt? Ist diese herrschende Normalität nicht viel zu starr? Sind vor diesem Hintergrund Ideen wie Effizienzkritik und Großzügigkeit nicht realitätsferne Hirngespinste? Nein. Die Fragwürdigkeit einer gesellschaftlichen Orientierung an Effizienz und Wachstum wird immer deutlicher. Das zeigt sich auf Feldern wie Klimaschutz und Tierwohl, aber auch auf einem Gebiet, dass lange Zeit unhinterfragt vom Glauben an Effizienz und Wachstum geprägt war: dem internationalen Handel. Wo jahrzehntelang Effizienzorientierung und die Nutzung komparativer Kostenvorteile unhinterfragte Dogmen waren, betonen heute immer mehr politische und wirtschaftliche Akteure die Relevanz von Resilienz und Sicherheit. Die Corona-Krise, der Krieg in der Ukraine und die gefährliche Abhängigkeit vom chinesischen Markt haben in kurzer Zeit dazu geführt, dass Staaten und Unternehmen verstärkt auf Resilienz setzen und damit bewusst auf Effizienzgewinne verzichten.

Infrage gestellte „Normalität“

Der hier vollzogene Wandel ist eine radikale Infragestellung von lange geltenden Vorstellungen von Normalität, wirtschaftlichem Erfolg und Fortschritt. Diesen neu zu denken, ist gewiss eine zentrale Herausforderung unserer Zeit. Darin liegt auch eine Chance für eine Ökonomie der Großzügigkeit. Sie ist zweifellos ein Einspruch gegen den „klassischen“ Fortschritt, der auf Expansion und Unterwerfung der Natur setzt – sie ist aber keine Absage an den Fortschritt an sich. Das genaue Gegenteil ist der Fall: Alle Kennzeichen der Großzügigkeit zielen auf eine Verbesserung des gesellschaftlichen Umgangs mit der Natur, mit Menschen und mit Tieren.

Hier wird also die Idee des Fortschritts nicht verabschiedet, sondern in eine andere Richtung interpretiert, ohne die Idee gesellschaftlicher Verbesserungen aufzugeben. Dass es anders gehen muss, ist angesichts unserer Lage wohl evident. Dennoch ist der politische Diskurs davon geprägt, Normalität zu vermitteln. Krise ja, Umbau ja, Zeitenwende ja – aber das Wohlstandsmodell, das doch gerade jetzt eigentlich gründlich hinterfragt gehörte, wird nicht zur Disposition gestellt. Zumindest kommunikativ wird viel getan, den Schein von Normalität zu wahren. Das wird sich als nicht nachhaltig erweisen.

DIE FURCHE, Nov. 2023

https://www.furche.at/wirtschaft/oekonomie-der-grosszuegigkeit-das-nachhaltige-fuellhorn-11900899?fbclid=IwAR17_i7oTJcH2NrubF4iKgcZ25V1rDte-pay3quq_IlXVYW4LsjNA1a91Zg

Der Autor ist Ökonom, Nachhaltigkeitsforscher und Publizist. Er hat den Prozess des Club of Rome Carnuntum zur Erarbeitung des regionalen Manifests „JA zum Klimawandel – JA zu grenzenlosem Wachstum“ wissenschaftlich begleitet: https://www.clubofrome-carnuntum.at/ja/ – Rückfragen unter JA@clubofrome-carnuntum.at.

 

Weitere Beiträge von Dr. Fred Luks zum selben Thema:

„Nachhaltige Entwicklung heißt, in einer endlichen Welt gut zu leben. Diese Idee ist bedroht. Bullshit-Bingo, Betroffenheitsrhetorik und Plastikwörterei muss man etwas entgegensetzen. Sonst sind wir bald nach der ´Nachhaltigkeit´, bevor sie überhaupt angefangen hat.“ https://fredluks.com/nachhaltige-nachhaltigkeit/grosszuegigkeit_1/?fbclid=IwAR2OSWWuHIhKRVxVWVDPZRplUfmi7qvqNXqs720JnhNDfdeHg3J7IqKv_Sg

  • Im „Der Standard“: „Unsere Normalität hat ausgedient“:

„Unsere alte Zukunft ist abgelaufen. Das gilt nicht nur für Krieg und Frieden, sondern auch für die Ökologie. Aber niemand muss auf Populismus oder naive Weltverbesserungsfantasien setzen.“

https://www.derstandard.at/story/3000000193030/die-ausgediente-normalit228t?fbclid=IwAR169ubcGAMwYTF7gkqRD04PXd8sxVh0G5TMJmk_okFXH7FieMbMcbKO7_k

Das Buch von Fred Luks: „Ökonomie der Großzügigkeit“ wurde im November 2023 präsentiert: https://www.morawa.at/detail/ISBN-9783837670288/Luks-Fred/%C3%96ko

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