Filmemacher Erwin Wagenhofer über Krisen, Kriege und seinen Film „But Beautiful“
Foto: (C) Michael Liebert

Erwin Wagenhofer macht Filme, die an sehr persönlichen Geschichten die großen Themen erklären: Mit We feed the world die Perversion der Lebensmittelindustrie, mit Let’s make money die Abgründe des Finanzkapitalismus, mit Alphabet den bedauernswerten Zustand des Bildungssystems. Es sind Filme, die im Mark stecken bleiben, deren Bilder man nicht vergisst und die oft aktueller sind als Zeitung, Socialmedia-Kanäle und Nachrichten zusammen. Wagenhofer hat einen phänomenalen Riecher.  Auch jetzt wieder. Kaum war sein Film But beautiful im Kino, kam das Virus. Im Film sieht man Bilder von Menschen, die im Einklang mit sich, der Natur und dem eigenen Dasein leben. Einen Zustand solcher Nachhaltigkeit zu erreichen, sich ihm zumindest anzunähern, ist wohl die Herausforderung nach Corona. Das spüren viele Menschen.

Darüber wollten wir mit ihm sprechen und erreichten Erwin Wagenhofer in Wien.

Esquire: Herr Wagenhofer, wir machen uns etwas Sorgen um Sie.
Erwin Wagenhofer:
 Warum jetzt das?

Ihr neuer Film But Beautiful ist gar so optimistisch. 
Finden Sie?

Zumindest haben Sie diesmal Beispiele gefunden, die Hoffnung machen. Menschen, die nicht nur ein nachhaltiges, sondern auch ein friedliches Leben führen, hat man den Eindruck. Vor dem aktuellen Weltgeschehen macht das einfach gute Laune. 
Das war die Idee. Die ersten Aufnahmen entstanden 2012. Vorher – vor allem in den sogenannten Nuller-Jahren – gab es keinen Anlass für optimistische Filme. Ihre Reaktion jetzt finde ich interessant, anscheinend ist es keiner mehr gewohnt, dass ein Film positiv ist. Deswegen habe ich auch länger gebraucht als sonst. In Dramaturgie steckt ja Drama, und wie wollen Sie etwas dramatisieren, was gar nicht dramatisch ist?

Das müssen Sie jetzt schon selbst beantworten.
Es ist doch wirklich jedem klar, dass wir so nicht weitermachen können. Das zeigen alle Umfragen, die Einsicht zieht sich durch alle Parteien und alle sozialen Schichten wollen einen Beitrag leisten. Die Frage ist bloß: wie? Wo findet man die Anleitung dafür? Wer ist diesen Schritt schon gegangen?

In rechten Kreisen könnte man eine Verschwörungstheorie etablieren: Es kann doch kein Zufall sein, dass die jeweiligen Systeme immer zusammenbrechen, sobald Erwin Wagenhofer einen Film darüber macht. Auf We feed the World folgte ein rasches Umdenken in Sachen Ernährung, am eklatantesten war es bei Let’s make Money. Der Film kam in die Kinos und prompt brach die Finanzkrise 2008 aus. Woher nehmen Sie Ihren Riecher?
Einfach zulassen – das ist die Kunst. In But Beautiful fährt der amerikanische Pianist Kenny Werner nach New York und sagt: „Music is already here!“ Es gibt Menschen, in dem Fall Musiker, die machen hörbar, was bereits da ist. Filmemacher machen Dinge sichtbar, die andere noch nicht sehen können. Wenn das authentisch passiert und nicht aus einem kommerziellen Grund oder – noch schlimmer – weil man etwas beweisen will, der Stärkere sein möchte, wenn es also aus einem inneren Antrieb und aus Inspiration passiert, dann liegen Sie auch zeitlich richtig. Das ist wie bei einem Koch eine Minutenspeise. Ein Risotto müssen Sie auch im Moment essen, nicht in zehn Minuten.

Das ganze Leben ist eine Haltungsfrage. Der Mensch kommt im Grunde gut zur Welt. Er ist Born to be good.

Ihre ProtagonistInnen kommen zur Einsicht: Kooperation ist die Lösung unserer Probleme. Mal bemüht man dafür das Beispiel des Waldes, in dem sich die Bäume gegenseitig helfen. Wenn einem von ihnen das Wasser ausgeht, wächst der Rest eben langsamer. Oder das Beispiel des Wassertropfens, der auf dem Küchentisch verdampft, im Ozean aber das ewige Leben hätte, umgeben von unendlicher Energie. Warum sind wir als Spezies darauf getrimmt, den Konkurrenten zu vernichten, seine Energie in uns aufgehen zu lassen?
Wir sind ja erst die kürzeste Zeit darauf getrimmt. In langen Phasen der Menschheit war das gar nicht so. Es gibt ein sehr aktuelles Buch, Im Grunde gut von Rutger Bregman, das beantwortet genau diese Frage: Das kapitalistische System und der Wirtschaftsliberalismus beruhen auf der Annahme, der Mensch sei schlecht. Der Menschen ist dem Menschen ein Wolf.

Thomas Hobbes.
Und damals gab’s ja schon den Kampf mit Rousseau, der eine ganz andere Philosophie vertrat. Aber Hobbes hat sich durchgesetzt. Und im Recht hat sich das Römische System durchgesetzt. Jeder Jurastudent muss das bis heute lernen. Im Gegensatz zum Griechischen Recht wurde es aber entwickelt, um ein Imperium zu gestalten. Immer mehr. Immer größer. Immer weiter. Wir sind aber schon lange an die Grenzen gekommen, spätestens 2008. Wir haben bloß nicht reagiert. 

Warum nicht?
Das ganze Leben ist eine Haltungsfrage. Der Mensch kommt im Grunde gut zur Welt. Er ist Born to be good. Im alten System kommt man damit aber nicht zurecht. Weil es auf permanentes Wachstum ausgelegt ist. Sie kennen sicher das Foto von Dezember 1968, The Earth Rise. Da saßen drei Männer in Apollo 8, um einen Landeplatz auf dem Mond zu finden. Irgendwann guckten Sie aber durch die andere Luke und sahen die Erde aufgehen. Alle drei Männer begannen zu weinen. Mit diesem Foto bin ich sozialisiert worden. Erst seitdem heißt die Erde Blauer Planet. Und warum wollen wir den jetzt zerstören? Auf Basis einer Theorie, einer bloßen Erzählung, dass Wachstum die Lösung für alles ist. Die noch dazu der christlichen Soziallehre widerspricht? Die nämlich besagt: Liebe deinen Nächsten – nicht besiege deinen Nächsten. Es heißt Erntedankfest nicht Mehrproduziertdankfest. Wir hintergehen täglich unsere eigene Kultur.

„Erst seit diesem Foto heißt die Erde Blauer Planet. Und warum wollen wir den jetzt zerstören? Auf Basis einer Theorie, einer bloßen Erzählung, dass Wachstum die Lösung für alles ist?“
Foto: Getty Images

Wir bei Esquire lieben Luxus – so er sich mit den Fragen vereinen lässt, die wir diskutieren. Was ist für Sie Luxus?
Ich leiste mir den größten Luxus, den es in dieser Welt gibt. Das ist der Luxus, eine eigene Meinung zu haben. Dieser Luxus hat mich – das ist ja auch Teil der Definition des Begriffs – eine Menge Geld gekostet. 

Inwiefern?
Wer nicht den Mainstream anbietet, hat automatisch Gegner. Gerade in der eigenen Branche. Ich habe mal einem deutschen Kollegen, den ich sehr schätze, von meiner Idee für Alphabet erzählt. Der sagte: „Was willst du denn mit einem Film über unser Bildungssystem, das ist doch gut!“

Sieht man ja jetzt in der Krise.
Was ich damit sagen will: Ich ecke bereits unter Kollegen an, die ich im Grund für Gleichgesinnte halte. Das ist das Eine. Was Sie und Ihr Magazin für Luxus halten, ist wahrscheinlich materieller Natur.

Auch, klar.
Habe ich nichts dagegen. Wenn sich jemand gut fühlt mit einer teuren Schweizer Uhr, soll er sich gerne eine kaufen. Autos genauso und alles, was es so gibt. Mein Großvater war Schuhmacher, sogar ein Meister. Das hatte zur Folge, dass wir in der Schule als einzige handgenähte Schuhe trugen und die anderen rundherum alle diese tollen Fabrikschuhe. Ich habe mich zu Tode geschämt. Aber es blieb mir. Als ich dann 20, 21 wurde, habe ich mir einige Paar Maßschuhe machen lassen, die haben relativ viel Geld gekostet. Ich habe die alle noch. 

Das Nachhaltigste, was es gibt.
Exakt: Das Nachhaltigste, was es gibt. Wenn Einer eine tolle Uhr kauft, könnte es sein, dass er sie bis zum Tode trägt und auch noch vererbt. Der Großvater, von dem ich sprach, hatte einen Anzug. Mit dem hat er geheiratet und in dem ist er auch begraben worden. Und dazwischen hat er ein lustiges Leben geführt, aber ein solches Leben, dass er immer in diesen Anzug gepasst hat.

Ihr Film heißt nicht nur But Beautiful, es ist auch ein sehr ästhetischer Film. Jede Aufnahme fast ein Gemälde, die Musik immer live, gespielt von fantastischen Musikern, mit großartiger Tonqualität. War es Ihnen wichtig, die Schönheit im Titel technisch zu transportieren?
Der Titel But Beautiful ist ja ein amerikanischer Jazz-Standard von 1948, der mir wahnsinnig gut gefällt. Wir haben vor Drehbeginn lange nach den passenden Optiken gesucht und schließlich einen gebrauchten ARRI/ZEISS-Optiksatz gekauft aus den 80ern. Den habe ich in München generalüberholen lassen. Viel Geld, für Equipment jedenfalls, nur um diesen Look zu haben. Ich habe spezielle Mikrofone gekauft, um die Instrumente abnehmen zu können. Um Ihre Frage zu beantworten: Ja, der Film sollte schön sein, gut klingen, Poesie ausstrahlen. Denn es ist ein Film über Verbundenheit, über Sinnlichkeit, über Weiblichkeit. 

Darin sind ebenfalls all Ihre ProtagonistInnen einig: Das Weibliche müsse gestärkt werden, und zwar das originäre Weibliche, nicht jene Weiblichkeit, die nur Männlichkeit imitiert. Ist mehr Weiblichkeit die Lösung? 
Davon bin ich überzeugt. Ich bin kein Wissenschaftler, also plappere ich jetzt bloß nach, aber die Wissenschaft war lange so erfolgreich, weil sie einem männliche Prinzip gefolgt ist: der Differenzierung. Elefanten von Löwen. Bakterien von Viren. Irgendwann in den 90er Jahren hat sich das totgelaufen. Speziell in der Biologie. Dort hat man ja immer alles vom Körper getrennt. Jeder Student muss jeden lateinischen Namen von jedem Nerv kennen. Bloß als man dann alles in Einzelteile seziert hat, fragte man sich: Und wo ist jetzt das Leben?

Spielen Sie auf den Untertitel Ihres Films an: Nichts existiert unabhängig? 
In Österreich gibt es einen Quantenphysiker, Anton Zeilinger. Der hat mit seiner Gruppe ein Lichtquantum geteilt. Das war die erste Sensation. Diese Forschergruppe arbeitete in Innsbruck, dort verblieb eines dieser Lichtteilchen. Das andere Teil haben sie zu Kollegen nach Spanien geschickt. Dann haben sie das Teil in Innsbruck mit Rotlicht bestrahlt. Im selben Moment ist das Teilchen in Spanien auch rot geworden. Nichts existiert unabhängig. Wenn wir das verstehen, ist es aus mit dem ganzen Konkurrenzdenken. Wir sind sowieso mit die einzige Spezies, die sich gegenseitig den Schädel einschlägt. Gut, das wollen wir nicht mehr, immerhin. Denn es ist wirtschaftlich ein Riesenproblem. Krieg, zack, alles kaputt, Wiederaufbau, teuer. Hat sich herum gesprochen.

Das ist er wieder, der neue Optimist Erwin Wagenhofer.
Ja gut, es gibt immer frische Kerle, die Machtgelüste haben. Viktor Orbán beispielsweise. Oder jüngere Exemplare, die geschichtlich nicht mehr anschließen an Erkenntnisse, die längst gewonnen schienen. Aber in der Bevölkerung gibt es dafür keinen Rückhalt. Also muss man’s anders machen: Wirtschaftskrieg. Wie das ausgeht, sieht man sogar in der kleinen EU. Und jetzt sagt uns ein Virus: Freunde, stopp. Denkt mal drüber nach, ob euer Lebensstil der richtige war. Reduktion ist etwas Schönes. Sie hat nichts mit Verlust zu tun, schon gar nicht mit Freiheitsverlust. Um es extrem auszudrücken: Nelson Mandela sagte, richtig frei ist er im Gefängnis geworden, wo er 27 Jahre saß und zwar zu unrecht. Wir können ein besseres Leben führen.

Wirklich Sorgen mache ich mir um Menschen in Amerika, die arm sind, die keine Krankenversicherung haben, die nicht einmal kochen können, weil sie gewohnt waren, sich in Fast Food-Ketten zu ernähren. 

Wie kriegen wir das hin: Ein besseres Leben?
Es ist immer schwer, einen Tipp zu geben. Nicht umsonst endet But Beautiful mit dem Satz I can’t change the world, but I can change myself. Wir müssen alle bei uns selbst anfangen und das Problem nicht im Außen suchen. Bei Corona wird ja auch nicht genug diskutiert, dass diese Krise auch aus unserem Lebensstil resultiert. Das ist ja nicht einfach über uns hereingebrochen. Da hat kein böser Mann irgendwo etwas aufgedreht. Am interessantesten finde ich zu sehen, was eigentlich möglich ist. Innerhalb kürzester Zeit wurde die Welt auf Null heruntergefahren. Und es leben trotzdem alle noch. Keine Infrastruktur ist zerstört. Es ist kein Krieg. Wenn man es rechnerisch und ökonomisch geschickt macht, ist auch gar kein so großer Verlust entstanden. 

Das sehen Barbesitzer oder Künstler sicher anders. 
Natürlich, aber diese Menschen werden nicht verhungern und sie werden auch in keinem Krieg umkommen. Das wäre natürlich anders, wenn das Virus nur in Afrika wüten würde wie Ebola. Nun betrifft es aber uns, unsere Gesundheit, und nun wird auch die Notbremse gezogen. Es ist eine positive Machtdemonstration.

Sie zeigen viele Musiker im Film, machen Sich keine Sorgen um die?
Für viele bedeutet diese Zeit, da haben Sie Recht, einen tiefen Einschnitt. Es sind auch alle Kinos geschlossen, eine Riesenkatastrophe. Aber von Künstlern kann man eine Menge lernen. Die meisten von ihnen führen ein Leben, das materiell sehr limitiert ist. Ein Leben, in dem Kreativität gefragt ist. Nicht umsonst spricht man von Lebenskünstlern. Diese Lebenskunst müssen wir nun alle an den Tag legen. Das ist möglich. Wenn wir Mieten stunden lassen. Wenn die Finanzämter nicht durchdrehen und die Leute aussaugen, dann ist es doch so, dass wir auch in dieser Zeit mit extrem wenig auskommen. Man kann ja auch kaum Geld ausgeben. Sorgen mache ich mir eher um Menschen in Amerika, die arm sind, die keine Krankenversicherung haben, die nicht einmal kochen können, weil sie gewohnt waren, sich in Fast Food-Ketten zu ernähren. 

Diese Menschen machen größtenteils die Jobs, auf die es gerade ankommt. 
Ja, aber über diese Underdogs hat man sich lustig gemacht. In Deutschland und Österreich werden jetzt Erntehelferinnen eingeflogen. Vielleicht sollte man eher drüber nachdenken, ob der Spargel einen fairen Preis hat.

Herr Wagenhofer, wie fahren wir jetzt den Laden wieder hoch? 
Wir haben die einmalige Chance, alles was zuvor gut funktionierte, beizubehalten und den Rest zurückzulassen. An sich ein ganz natürlicher Prozess. Die Beispiele im Film zeigen ja, was möglich ist. Ich wusste zuvor nicht, dass man Holzhäuser auf 1000 Meter Höhe bauen kann, die man nicht heizen und nicht kühlen muss. Ich habe in solchen Häusern geschlafen. Da spart das eigene Herz pro Nacht eine Stunde Frequenz, weil man so runterkommt. Inmitten des Hauses haben Sie keinen Handyempfang mehr, weil das Holz alle elektrischen Wellen abschirmt. Gebaut aus einem ganz einfachen Material, das jetzt, während wir hier sprechen, wächst und uns nicht ausgeht. Die Tibeter sagen: Krachend fällt der Baum, still wächst der Wald. 

Ihre Art des Filmemachens ist auf das Reisen angewiesen und auf die Nähe zu den Menschen. Beides gerade schwierig bis verboten. Wann hoffen Sie, wieder drehen zu können? 
Neben mir liegt die Kamera. Heute früh war ich am Prater und habe die Bäume gesehen, die wie wild austreiben. Eine Blütenpracht, die unglaublich ist. Das machen die Bäume jetzt schon zum dritten Mal hintereinander. Normalerweise tun sie das alle sieben Jahre. Es ist ein enormer Stress für den Baum. Der Begriff für diesen Prozess lautet Angstblüte. Das macht der Baum also nur, wenn er glaubt, er stirbt. Dann steckt er nochmal alle Energie in die Blüte und damit in die Samen. Er will ja einen neuen Baum anlanden. Vielleicht eröffne ich heute Nachmittag den Dreh.

Das wäre fast ein wunderbares Schlusswort gewesen – aber haben Sie gerade gesagt, die Bäume sterben?
Ja. Es gibt ein viel größeres Problem, viel virulenter noch als Corona. Die Umwelt. Unsere Kinder wissen das. Vielleicht begreifen es nun endlich alle.

 

Interviewer: Dominik Schütte, Esquire, 4. April 2020

https://www.esquire.de/

Link zum Interview:

https://www.esquire.de/news/gesellschaft/corona-lehrt-uns-lebenskunst-filmemacher-erwin-wagenhofer-ueber-krisen-kriege-und-seinen-film-beautiful