Lesetipp unseres Club-Mitglieds Dr. Rudolf Winkelmayer, Tierschutz- und Tierrechts-Experte (immer wieder auch im ORF):
Freiheit braucht Grenzen
Eckart Löhr, veröffentlicht am 31. Juli 2025.
Wir brauchen innerhalb der Ethik einen Wechsel der Perspektive: Auch nichtmenschliche Lebewesen müssen in den Kreis derjenigen aufgenommen werden, die über moralische Rechte verfügen. Am Beispiel des Fleischkonsums lässt sich zeigen, dass wir den falschen neoliberalen Freiheitsbegriff überwinden müssen, der diese Rechte negiert.
„Jede Erweiterung der Freiheit ist eine große Wette darauf, dass ihr guter Gebrauch ihren schlechten überwiegen wird.“ Das schrieb der Philosoph Hans Jonas bereits im Jahr 1979 in seinem bahnbrechenden Buch Das Prinzip Verantwortung. In Anbetracht der unleugbaren Tatsache, dass wir dabei sind, unsere gemeinsamen Lebensgrundlagen in einem atemberaubenden Tempo zu zerstören, deutet vieles darauf hin, dass wir dabei sind, diese Wette zu verlieren. Und von dieser Wette hängt nicht nur die Zukunft unseres Planeten, sondern auch die Zukunft der liberalen Demokratien des Westens ab.
Dass wir uns durch den fortgesetzten Missbrauch der Freiheit in diese verzweifelte Lage manövriert haben, ist traurig und ein Armutszeugnis für unsere Spezies, die sich selbst in einem Anfall von Größenwahn das Etikett Homo sapiensauf die Brust geklebt hat. Unsere derzeitige Situation ist vor allem eine Folge des neoliberalen Denkens, das sich spätestens seit den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts nekrotisierend durch weite Teile der Gesellschaft gefressen hat. Der Soziologe Harald Welzer hat richtig erkannt, dass eine „›konsumorientierte Idee der Freiheit‹ der Wenigen (…) die gemeinwohlorientierte Idee der Freiheit aller abgelöst und damit in gewissem Sinn die Idee der Demokratie selbst entwertet (hat).“
Die eigentlichen Wurzeln reichen indes wesentlich tiefer. Um das zu zeigen, bedürfte es allerdings einer umfangreichen kulturphilosophischen Analyse, die hier nicht geleistet werden kann. Aber auch ohne eine solche Analyse lässt sich gut zeigen, dass eine der Hauptursachen der Problematik auf einem eng mit dem neoliberalen Denken verbundenen falschen Verständnis von Freiheit beruht. Denn mit dem „Verschwinden jeglicher politischen Utopie in den 1990er Jahren“, so die französische Philosophin Corine Pelluchon, „und dem Aufstieg des Ökonomismus zum einzigen Denkhorizont gelingt es dieser Zivilisation nicht einmal mehr, in ihren Traditionen Maßstäbe zu finden, die es ihr ermöglichten, dem Recht des Einzelnen, alles zu gebrauchen und zu missbrauchen, was seiner eigenen Erhaltung und seinem Fortkommen dient, noch irgendwelche Grenzen zu setzen.“
Zuallererst müssen wir somit den Freiheitsbegriff analysieren, der diesem neoliberalen Denken der westlichen Gesellschaften entspringt und unser Handeln bestimmt. Denn natürlich ist es nicht die Freiheit als solche, die zu kritisieren ist, sondern lediglich eine spezifische Definition von Freiheit, die glaubt, alles tun zu können, was sie will und was ihr möglich ist, aber die Verantwortung für die Konsequenzen ihres Handelns nicht übernehmen möchte oder sich schlicht nicht darum schert. Dieses falsche Freiheitsverständnis gilt es, zugunsten wirklicher Freiheit zu überwinden. Ich versuche am folgenden Beispiel zu zeigen, worin unser falscher Gebrauch der Freiheit besteht und was diesen falschen Gebrauch, gerade auch im Zusammenhang mit unserem Umgang mit der nichtmenschlichen Welt, überhaupt erst ermöglicht. Denn es gibt durchaus Bereiche, in denen wir angemessen mit unserer Freiheitumgehen.
In dem Moment, in den wir in ein Auto steigen, akzeptieren wir stillschweigend, dass unsere Freiheit, alles tun zu dürfen, was wir wollen, endet. Das beginnt mit der Pflicht, die Sicherheitsgurte anzulegen. Aber damit ist es noch lange nicht genug: Wir dürfen nicht mit jeder beliebigen Geschwindigkeit fahren, sondern müssen uns in der Regel an Begrenzungen halten (Dass Deutschland eines der wenigen Länder der Welt ohne Geschwindigkeitsbegrenzungen auf Autobahnen ist, lässt sich rational nicht mehr erklären). Wir müssen stehenbleiben, wenn die Ampel rot zeigt. Wir dürfen nicht in eine Einbahnstraße fahren. Wir müssen dem anderen die Vorfahrt gewähren, wenn die Regelung entsprechend ist, wir dürfen während der Fahrt nicht telefonieren, außer mit Freisprechanlage, usw., usf. Es gibt eine Unmenge an Ge- und Verboten und kaum jemand käme auf die Idee, diese in ihrer Gesamtheit in Frage zu stellen. Warum nicht? Weil jeder von uns weiß, dass anderenfalls auf den Straßen das völlige Chaos herrschen würde, verbunden mit vielen Unfällen, Verletzten und Toten. Auch käme wohl kaum jemand auf die Idee, die Straßenverkehrsordnung als sichtbares Zeichen eines totalitären Staates zu deuten oder gar zu behaupten, wir würden aufgrund dieser Vorschriften in einer Diktatur leben. Auch wenn sich selbstverständlich über die eine oder andere Regelung streiten lässt.
Freiheit als soziale Freiheit
Aber nicht nur im Straßenverkehr, sondern beinahe in jedem anderen Lebensbereich unterwerfen wir uns gewissen Regeln, weil wir wissen, dass anderenfalls ein gedeihliches Zusammenleben mit anderen Menschen nur schwer vorstellbar wäre. Wir akzeptieren somit, dass Freiheit nicht bedeutet, alles tun zu dürfen, was man kann und möchte, sondern dass meine Freiheit in der Regel da endet, wo die berechtigten Interessen anderer tangiert werden. Man nennt das schlicht „soziale Freiheit“. Der Sozialphilosoph Axel Honneth versteht darunter die Freiheit in Gemeinschaft und Solidarität als Gegenentwurf zum Liberalismus, der einzig die individuelle und egoistische Freiheit betont. Denn alles zu tun, was man will, hätte mit Freiheit herzlich wenig zu tun. Genaugenommen wäre es ihr Gegenteil, nämlich das Getriebensein von unseren Wünschen und Begierden. Wirkliche Freiheit zeigt sich gerade in der Fähigkeit, die eigenen Möglichkeiten zu begrenzen. Das gilt sowohl im privaten Bereich, aber noch viel mehr im Bereich des Politischen und ganz besonders in der Sphäre des Technischen und im Umgang mit unserer lebendigen Mitwelt.
So sah es auch der Philosoph Theodor Adorno, als er vor siebzig Jahren in der Minima Moralia weit vorausschauend schrieb: „Vielleicht wird die wahre Gesellschaft der Entfaltung überdrüssig und lässt aus Freiheit Möglichkeiten ungenützt, anstatt unter irrem Zwang auf fremde Sterne einzustürmen.“ Das wäre der Freiheitsbegriff einer reifen, erwachsen gewordenen Gesellschaft. Und in den meisten Bereichen unseres Lebens akzeptieren wir diesen sozialen Freiheitsbegriff, wie das Beispiel der Straßenverkehrsordnung gerade gezeigt hat. Hier lassen wir ganz bewusst „Möglichkeiten ungenutzt“, auch wenn Adorno das in einem größeren Zusammenhang verstanden haben wollte.
Die Bevorzugung der eigenen Art
Was wäre aber, wenn der Staat Ge- und Verbote auf Bereiche ausdehnt, die die berechtigten Interessen nichtmenschlicher Lebewesen tangieren bzw. ignorieren? Nehmen wir einmal den Bereich des Fleischkonsums. Denn hier wird nicht nur irgendein Interesse eines Lebewesens tangiert, sondern das zentrale Interesse überhaupt: Das Interesse des betroffenen Tieres am Leben zu bleiben. Solche Ge- und Verbote hätten zweifellos einen beispiellosen gesellschaftlichen Aufschrei zur Folge, begleitet vom Vorwurf der Ökodiktatur, während kaum jemand den Vorwurf der Verkehrsdiktatur erheben würde. Warum messen wir hier mit zweierlei Maß? Darauf gibt es (mindestens) zwei Antworten:
Zum einen schreiben wir dem Menschen einen höheren Status zu, halten unsere eigene Spezies für wertvoller als alle anderen und leiten daraus das Recht ab, über andere nichtmenschliche Lebewesen zu verfügen. Der australische Philosoph Peter Singer hat hierfür den Ausdruck „speciesism“ (Speziesismus) geprägt. Um diesen zu vermeiden, schreibt Singer, „müssen wir einräumen, dass Wesen, die in allen relevanten Aspekten ähnlich sind, ein ähnliches Recht auf Leben haben – und die bloße Zugehörigkeit zu unserer eigenen biologischen Spezies kann kein moralisch relevantes Kriterium für dieses Recht sein.“ Jeder von uns akzeptiert, dass er nicht mit 180 Stundenkilometer durch eine belebte Innenstadt fahren darf. Warum? Weil die Wahrscheinlichkeit, auf diese Weise jemanden zu töten oder schwer zu verletzen, drastisch zunimmt. Diejenigen, die das trotzdem tun, werden von der Mehrheit der Menschen zurecht als antisozial oder schlicht als kriminell bezeichnet. Kommt es in diesem Zusammenhang zu tödlichen Unfällen mit Unbeteiligten wird mittlerweile sogar wegen Mordes ermittelt.
Doch wenn ich mit 180 Stundenkilometern durch die Innenstadt fahre, besteht immerhin noch die Möglichkeit, niemanden zu verletzen. Im Gegensatz dazu setzt Fleisch zu essen die Tötung von Tieren zwangsläufig voraus. Ich akzeptiere die Einschränkung meiner Freiheit demnach nur, weil es sich bei den potenziellen Opfern meines Handelns um Menschen handelt, die ich für grundsätzlich wertvoller halte als Tiere, gleich welcher Art.
Wenn ich Fleisch esse, akzeptiere ich außerdem, dass dafür Tiere, speziell in der Massentierhaltung, unter miserablen Bedingungen gehalten und eines Tages getötet werden. Sie werden nicht mehr als unsere fühlenden und mit Selbstbewusstsein ausgestatteten Mitgeschöpfe wahrgenommen, sondern zu reifizierten quasi-inerten Objekten innerhalb eines erbarmungslosen Ausbeutungs- und Produktionsprozesses degradiert. Ich werde hier nicht auf die entsprechenden Details eingehen. Jede und jeder hat die Freiheit, sich über diese Vorgänge zu informieren und niemand kann sich mit der bekannten Ausrede behelfen, er hätte von nichts gewusst. Heute können alle alles wissen. Das ist der Fluch und die große Chance der Moderne, die uns in eine kaum zu ertragende Verantwortung stürzt. Wie und ob wir dieser Verantwortung gerecht werden, entscheidet nicht zuletzt über unsere Zukunft.
Ein weiterer Grund für unsere Weigerung, im Bereich des Fleischkonsums eine Beschneidung unserer Freiheit zu akzeptieren, liegt in der Tatsache begründet, dass wir keine direkten Folgen unseres Verhaltens zu spüren bekommen. Wenn ich mich nicht an die Straßenverkehrsordnung halte und davon ausgehen und akzeptieren muss, dass es auch die anderen nicht tun, werde ich möglicherweise schon an der nächsten Kreuzung dafür mit dem Tod oder einer schweren Verletzung bestraft. Das heißt, meine Weigerung, jegliche Einschränkung meiner Freiheit (und die der anderen) zu akzeptieren, konfrontiert mich in jeder Sekunde mit den daraus folgenden Konsequenzen. Mein täglicher Fleischkonsum tut das nicht. Zumindest nicht unmittelbar. Aber natürlich weiß inzwischen jeder von uns, dass unser Fleischkonsum massive ökologische Auswirkungen hat, die bereits in Form von Zoonosen, Antibiotikaresistenzen, Naturzerstörung und nicht zuletzt in Form des Klimawandels auf uns zurückschlagen. Von individuellen negativen Folgen wie Gicht, Krebs, Herz- Kreislauferkrankungen u.a. einmal abgesehen.
Jeder und jede hat heute die Möglichkeit, sich problemlos vegetarisch bzw. vegan zu ernähren, was trotzdem die überwiegende Mehrzahl der Menschen nicht davon abhält, Fleisch zu essen. Fleisch zu essen bedeutet eben mehr, als lediglich unseren Hunger zu stillen. Fleischkonsum ist ein Bestandteil unserer „imperialen Lebensweise“ (Brand/Wissen) und oftmals Ausdruck eines „androzentrischen Lebensentwurfs einer hegemonialen Männlichkeit“. Das bedeutet, dass der Verzicht auf Fleisch sehr wahrscheinlich nur im Kontext einer Änderung unseres gesamten Lebensmodells umzusetzen sein wird, beziehungsweise eine Änderung unseres Lebensmodells voraussetzt.
Selbstverständlich wäre es allemal besser, wenn die Menschen ihre vermeintliche Freiheit, Fleisch zu essen, aus Einsicht in die geschilderte Problematik, freiwillig begrenzen würden. Darauf deutet zurzeit allerdings nichts hin. Eher im Gegenteil. Wer das nicht möchte und auch staatliche Verbote in diesem Bereich ablehnt, muss sich allerdings fragen lassen, wie er das Problem anderweitig in den Griff bekommen will. Und dass Fleischkonsum auf allen Ebenen ein gewaltiges Problem darstellt, wird kein klardenkender Mensch bestreiten. Laut der Entwicklungs- und Umweltorganisation Germanwatch entsprachen „die Emissionen der zehn umsatzstärksten Schlachtkonzerne und der zehn umsatzstärksten Milchkonzerne im Jahr 2022 rund 61 % der im selben Jahr in Deutschland ausgestoßenen Emissionen durch Pkws. Berücksichtigt man bei der Berechnung auch sog. Opportunitätskosten, dann steigen die Emissionen der Konzerne sogar auf das 1,5-fache der Pkw-Emissionen.“ Unter Opportunitätskosten versteht man die durch die Nutzung von Flächen für den Futtermittelanbau entgangene Speicherung von CO2.
Da freiwillige Selbstbeschränkung in diesem Zusammenhang in der Tat eine Illusion zu sein scheint, bleibt am Ende keine andere Lösung, als dass der Staat auf politischer Ebene tätig werden und entsprechende Gesetze verabschieden muss. Das bedeutet nicht, dass z. B. ein Verbot des Fleischkonsums sofort umgesetzt werden muss, so wünschenswert das auch wäre. Man könnte entsprechende Übergangsfristen schaffen, um den Menschen die Möglichkeit zu geben, sich auf die neue Situation einzustellen. Auch über entsprechende Entschädigungen für einzelne Akteure wird zu sprechen sein. „Und schließlich gilt es herauszufinden“, so noch einmal Corine Pelluchon, „was auf den Gebieten der Kultur, der Bildung und der Erziehung geschehen kann, um einen Einstellungswandel herbeizuführen, der die Beendigung der Ausbeutung der Tiere als Selbstverständlichkeit erscheinen lässt.“
Der Schutz der individuellen Rechte muss auch nichtmenschliches Leben umfassen
Um nicht missverstanden zu werden. Hier soll nicht einem übergriffigen Staat das Wort geredet werden, der willkürlich individuelle Freiheitsrechte beschneidet. Die Coronazeit hat in aller Drastik gezeigt, wohin ein solches Staatsverständnis führen kann. Es geht auch nicht darum, den Menschen paternalistisch vorzuschreiben, was sie zu tun oder zu lassen haben. Es geht schlicht um einen Wechsel der Perspektive: Weg vom anthropozentrischen Blickwinkel, der nur die eigenen Rechte und Bedürfnisse sieht, hin zu einer ganzheitlichen Sichtweise, die auch die Rechte und Bedürfnisse der nichtmenschlichen Lebewesen anerkennt.
Die individuelle Freiheit ist ein hohes Gut. Die Einschränkung individueller Freiheitsrechte ist nur dann gerechtfertigt, wo die berechtigten Interessen anderer Lebewesen massiv tangiert werden und dem keine anderen Rechte entgegenstehen. Es ist die vorrangige Aufgabe des Staates, die individuellen Freiheitsrechte, gerade auch von Minderheiten, zu gewährleisten und zu schützen. Doch darf dieser Schutz der individuellen Rechte eben nicht länger auf den Menschen begrenzt bleiben, sondern muss dem Prinzip der Gleichheit zufolge auch nichtmenschliches Leben einschließen. So wird hier gerade nicht für einen Staat plädiert, der willkürlich die Freiheit der Menschen beschneidet, sondern im Gegenteil für einen Staat, der eben diese individuelle Freiheit aller Lebewesen garantiert.
Das heißt, auch andere Praktiken, die dazu geeignet sind, nichtmenschliches Leben zu zerstören oder in seiner Entfaltung zu hindern, müssen kritisch hinterfragt und wenn nötig verboten werden. Niemand hat die Freiheit, diesen Planeten und das Leben auf ihm zu zerstören und künftigen Generationen damit die Grundlage für ein gutes Leben zu nehmen. Am Ende muss es darum gehen, die libertäre Konzeption von Freiheit, wie sie der Neoliberalismus vertritt, und die einseitig auf die Freiheit des Individuums auf Kosten der nichtmenschlichen Lebenswelt abzielt, grundlegend infrage zu stellen. Denn „nicht durch ihre Gegner ist unsere politische Freiheit am tiefsten gefährdet“, schreibt der Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker, „sondern durch unsere […] Unfähigkeit, sie ihrem Sinn gemäß zu gebrauchen.“ •
Eckart Löhr ist freier Publizist. Zuletzt erschien von ihm das Buch „Die Würde der Natur. Plädoyer für einen radikalen Perspektivenwechsel“ im oekom Verlag.
Link zum Essay: https://www.philomag.de/artikel/freiheit-braucht-grenzen