„Wir brauchen null Emissionen. Null!“

In nur drei Jahrzehnten müsse die komplette Weltenergieversorgung umgebaut werden, fordert Klimaforscher Anders Levermann. „Deshalb müssen wir sofort beginnen, wir können nicht auf den Systemwechsel warten.“

Anders Levermann, geboren 1973, leitet die Abteilung „Komplexitätsforschung“ am Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung (PIK). Komplexitätsforschung bedeutet, alle Aspekte des Klimaproblems in einen Zusammenhang zu bringen.

SZ: Kürzlich erschien eine Studie, der zufolge der CO₂-Ausstoß der vergangenen 15 Jahre dem schlimmsten aller damals vom Weltklimarat berechneten Szenarien entspricht. Erschreckt Sie das?Levermann: Als ich angefangen habe zu forschen, waren wir bei 0,6 Grad Erwärmung, mittlerweile sind zwischen 1,1 und 1,2 Grad. Dass wir selbst in den reichen Ländern so wenig geschafft haben, ist wirklich ein bisschen deprimierend.

Fällt man als Klimawissenschaftler irgendwann vom Glauben ab, dass die Menschheit die Kurve noch kriegt?

Nun ja, es ist eine enorm große Aufgabe, vor der wir stehen. Und in den Köpfen der Menschen ist viel passiert. Fridays for Future war der letzte große Schritt, aber dass es ein Klimaproblem gibt, ist in Deutschland in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Viele Klimaaktivisten verbinden aber immer stärker klimapolitische mit sozialen Forderungen, etwa nach „Klimagerechtigkeit“. Wird Klimapolitik dadurch nicht zu einem linken Thema, das nur bei einem Teil der Gesellschaft verfängt?

Nein. Das Klimathema war mal links. Heute ist es eins, auf das sich in Deutschland das gesamte Spektrum der Vernunftbegabten einigen kann, denn es geht darum, den Rechtsstaat und die Demokratie, unsere Lebensgrundlage auf diesem Planeten zu erhalten. Der Klimawandel ist mit vielen anderen Themen verknüpft. Von Gerechtigkeitsfragen bis hin zur Weltbevölkerung und den Bildungschancen von Frauen überall auf der Welt.

Häufig sprechen Klimaaktivisten von einem „Systemwandel“, der nötig sei. Viele Menschen sind sehr skeptisch, wenn sie das hören.

Darum geht’s auch nicht! Einen Systemwandel können Leute gern fordern, dafür gibt’s auch legitime Gründe, aber das Klimaproblem müssen wir innerhalb der nächsten 30 Jahre lösen. In nur drei Jahrzehnten müssen wir die komplette Weltenergieversorgung umgebaut haben. Deshalb müssen wir sofort beginnen, wir können nicht auf den Systemwechsel warten. Nochmal: Das Klimaproblem ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Es muss und kann in diesem System gelöst werden.

Sie klingen sehr optimistisch. Erleben wir etwa mit den tauenden Permafrostböden nicht aktuell die Klimakipppunkte, vor denen Wissenschaftler so lange gewarnt haben?

Ich bin seit 20 Jahren Klimaforscher und seit 20 Jahren arbeite ich an Kipppunkten im Klimasystem. Jetzt überschreiten die ihre Grenzwerte. Und es ist genau so ernst, wie wir gesagt haben. Wenn der westantarktische Eisschild kippt, dann verlieren wir Hamburg, Shanghai, Kalkutta, New York, Tokio und so weiter. Wir müssen die gesamte Wirtschaft umbauen. Deshalb kommt es auch nicht so sehr auf die genauen jährlichen Emissionswerte an.

Sondern worauf?

Auf den Strukturwandel! Wir brauchen nicht weniger Emissionen, wir brauchen null Emissionen. Null! Das ist etwas anderes als Emissionen verringern. Etwas fundamental anderes, wenn sie mit Wirtschaftsvertretern sprechen. Verringern bedeutet, ich mache etwas weniger, und das wollen Wirtschaftsvertreter nicht. Null Emissionen heißt, ich mache etwas anders. Da steckt Potenzial drin. Die Rolle der Politik ist, diesen Antrieb zu entfesseln.

Einige Ihrer Kollegen vom PIK haben eine Art „Generationenvertrag“ vorgeschlagen: Die Jüngeren halten sich an die Corona-Regeln, im Gegenzug setzen sich die Älteren fürs Klima ein.

Die Pandemie zeigt, dass wir alle in der gleichen Gesellschaft, der gleichen Welt leben. Dass wir uns von nichts entkoppeln können.

Aber ist es nicht viel einfacher für die jungen Menschen, nun ein bisschen Maske zu tragen und Hände zu wachen, bis der Impfstoff gefunden ist – während es im anderen Fall darum geht, anders zu wirtschaften, anders zu leben, und zwar für immer?

Es gibt Dinge, die vernünftig und – so abgegriffen das klingt – moralisch richtig sind. Und es gibt Dinge, die das nicht sind. Da muss man sich irgendwann einfach auf die richtige Seite stellen. Auf der richtigen Seite ist es auch kein Verdruss, kein trauriges Leben, sondern ein schönes.

© SZ vom 21.08.2020/saul

Interview von Philipp Bovermann

 

Anders Levermann: „Das Klimaproblem müssen wir innerhalb der nächsten 30 Jahre lösen“.

(Foto: imago/ZUMA Press)