Bildung: Die ewigen Feinde des talentierten Schülers

veröffentlicht in TREND Ausgabe 36/2019

Vorschläge, wie das zweitteuerste Schulsystem der EU endlich Kinder hervorbringt, die nicht chancenlos ins Leben geworfen werden.

Dr. Andreas Salcher, Bildungsexperte, Autor und Unternehmensberater, Bild © trendDer größte Feind des talentierten Schülers sind all jene, die sich mit dem ungemein niedrigen Anspruch an unsere Schulen zufriedengeben, den sie in keinem anderen ihnen wichtigen Bereich akzeptieren würden. Stellen wir uns einen Autohersteller vor, von dem jedes fünfte neu ausgelieferte Auto einfach nicht fährt. Oder gar eine Fluglinie, bei der jedes fünfte Flugzeug abstürzt. Aber jedes fünfte Kind kann nach neun Jahren Schule nicht sinnerfassend lesen? „Kann man halt nichts machen“ oder „selber schuld“, meinen die Feinde des talentierten Schülers.

Die Fakten, die das Versagen unseres Schulsystems dokumentieren, sind seit über zehn Jahren fast unverändert geblieben, trotz aller teuren Maßnahmen wie der Senkung der Klassenschülerhöchstzahlen, der Einführung der Neuen Mittelschule mit verpflichtend zwei Lehrern in den Hauptgegenständen, der Schulautonomie, den Bildungsstandards, der Zentralmatura usw. Entgegen allen Behauptungen vom Kaputtsparen hat sich das österreichische Bildungsbudget in den letzten zehn Jahren immer nur nach oben entwickelt: von 6,73 Milliarden im Jahr 2008 auf 8,821 Milliarden Euro im Jahr 2018. Das sind mit über drei Prozent jährlichen Steigerungen deutlich mehr als jene des Bruttoinlandsprodukts. Wir leisten uns bei den Ausgaben pro Schüler das zweitteuerste Schulsystem innerhalb der EU, nur Luxemburg ist teurer.

Ein so teures Schulsystem, das seinen Schülern in neun Jahren Pflichtschule nicht Lesen, Schreiben und die Grundrechnungsarten vermitteln kann, hat sich selbst aufgegeben. Die Feinde des talentierten Schülers leben noch. Sie zerstören die Talente unserer Kinder und werfen viele von ihnen chancenlos ins Leben.

Dabei sind die Herausforderungen gewaltig. 63 Prozent der Volksschüler in Wien sprechen nicht mehr Deutsch als Umgangssprache, in den Mittelschulen liegt dieser Anteil bei 77 Prozent! Dabei handelt es sich zum Großteil um in Österreich geborene Kinder, die hier in den Kindergarten gegangen sind und trotzdem fast nicht Deutsch können.

Österreich ist eines der wenigen OECD-Länder, wo die Kinder der dritten Migrationsgeneration die Landessprache schlechter beherrschen als die der zweiten. Andererseits erbringen Schüler aus Osteuropa und Asien teilweise bessere Leistungen als österreichische Kinder. Es geht also nicht um Migranten-versus österreichische Kinder, sondern um das Auseinanderklaffen von gebildeten und bildungsfernen Eltern.

So schafft es Kanada zum Weltmeister der Chancengerechtigkeit.

Dass es auch anders geht, beweist Kanada, wie Österreich ein Einwanderungsland, wenngleich mit einer wesentlich klügeren Migrationspolitik und einem integrativen Schulsystem mit leistungsorientierten Ganztagsschulen. In Kanada sprechen viele Kinder von Einwanderern nach Abschluss ihrer Schulzeit besser Englisch als die in Kanada geborenen Schüler. Vom legendären Managementdenker Peter Drucker stammt das Zitat: „Wann immer Sie einen hervorragenden Menschen gegen ein schlechtes System antreten lassen, wird stets das schlechte System gewinnen.“

Absolut gleiche Chancen in einer offenen Gesellschaft halte ich für eine Illusion, weil Kinder aus funktionierenden, gebildeten Familien immer einen Startvorteil haben werden. Das erreichbare Ziel, das sich ein Schulsystem setzen kann, lautet Chancengerechtigkeit. Das bedeutet, dass soziale Startnachteile möglichst ausgeglichen und nicht noch verstärkt werden. Dafür würde es reichen, ein Prinzip in unserer Verfassung zu verankern: Jedes Kind hat ein Recht darauf, dass seine Talente in der Schule maximal gefördert werden.

Wie das geht? Maria Montessori und Helen Parkhurst haben das bereits vor über 100 Jahren vorgemacht, und heute gibt es viele Schulen, die das praktisch umsetzen:

Nicht zentrale Lehrpläne über Kinder stülpen, sondern individuelle Lehrpfade.

Dieses Ziel wäre mit den heutigen digitalen Möglichkeiten sogar noch leichter erreichbar.

Die Idee, Smartphones an Schulen generell zu verbieten, hat etwa die gleiche Erfolgswahrscheinlichkeit, wie ausgedrückte Zahnpasta wieder in die Tube zurückzubekommen. Vor allem wenn Kinder erleben, wie ihre Eltern und Lehrer selbst in jeder freien Minute auf ihr Handy schauen.

Statt uns in fundamentalistische Stellungskriege über die Frage zu verstricken, ob Smartphones in der Schule Teufelszeug oder pädagogische Allzweckwaffen sind, sollten wir uns fragen: Glauben wir wirklich, dass in zehn Jahren Lehrer noch immer mit dem Rücken zu ihren Schülern vor einer Tafel stehen werden, um mit Kreide Formeln draufzuschreiben, die sie dann wieder löschen, sobald die Tafel voll ist, um dieses Ritual nach der Pause in der Nachbarklasse zu wiederholen?

Die Digitalisierung wird auch vor unseren Schulen nicht Halt machen. Denken wir an Wikipedia, das Sterbehilfe für den guten alten Brockhaus geleistet hat, der in der Realität schon jahrzehntelang in Bibliotheken verstaubte. Dafür hat Wikipedia bei aller Kritik mehr zur Demokratisierung des Wissens auf der Welt beigetragen als viele milliardenteure Regierungsinitiativen zur Bildung. Schulen, die sich wie in der Vergangenheit primär auf sture Wissensvermittlung konzentrieren, wird es so ergehen wie dem Brockhaus.

Wo, wenn nicht in der Schule, soll Schülern eine breite Medienkompetenz vermittelt werden, die Voraussetzung dafür ist, um sich in der digitalen Welt selbstverantwortlich und risikobewusst bewegen zu können? Kindern und Jugendlichen digitale Geräte zu geben und sie damit allein zu lassen ist gefährlich. Sie total zu verbieten ist, wie wir eingangs gesehen haben, nicht realistisch.

Daher sollen die Chancen und die Gefahren von Social Media von kompetenten Lehrern aus unterschiedlichen Perspektiven aufgezeigt werden. Schüler sollten früh den kritischen, reflektierten Umgang mit Inhalten im Web lernen, zum Beispiel wie Informationen überprüft werden können, oder die Auswirkungen von Postings und Chats sowie von Algorithmen und Chatbots einzuschätzen.

Untersuchungen zeigen, dass ohne Begleitung das Smartphone für niedrige soziale Schichten negative Wirkungen hat, für höhere soziale Schichten positive. Die Schere geht also auseinander, wenn wir uns in der Schule nicht mit Kindern und ihren digitalen Geräten aktiv auseinandersetzen.

Um nicht missverstanden zu werden: Gute Lehrer wissen, dass sie unersetzbar sind.

Sie könnten sich aber von der Notwendigkeit langer Frontalvorträge befreien und ihre Rolle neu definieren. Das Verteilen von Gratis-Tablets ohne pädagogisches Konzept ist bei Politikern zwar populär – aber sinnlos und teuer. Erst durch die konsequente Verknüpfung der drei Faktoren „pädagogische Konzepte“, „Kompetenzen der Lehrenden“ sowie „funktionierende und benutzerfreundliche Technologie“ können die Potenziale der Digitalisierung für das Schulwesen genutzt werden. Digitalisierung in diesem Verständnis versteht sich als Veränderungstreiber für neues Lernen und nie als Selbstzweck. Zu viele digitale Medien werden genauso schnell langweilig wie der ausschließliche Einsatz der Tafel.

Österreich liegt bei der Nutzung der digitalen Möglichkeiten im Bildungssystem im Vergleich mit den skandinavischen Ländern oder mit Singapur deutlich zurück. Immerhin hat das Bildungsministerium einen ambitionierten „Masterplan Digitalisierung in der Bildung“ erarbeitet, der aufgrund des Ibiza- Videos nicht mehr umgesetzt werden konnte.

Das ist die dringliche Aufgabe der nächsten Regierung. Das würde allerdings eine völlige Neuorientierung der Lehrerausbildung, ein massives Investment in die innere Schulentwicklung und vor allem den Mut, die Tabus in unserem Schulsystem anzugreifen, bedeuten. Mit dem Wunschdenken „Wasch mir den Pelz, aber mache mich nicht nass“ wird die Digitalisierung genauso am ausgeprägten Immunsystem unseres Schulsystems gegen jede Veränderung scheitern wie alle bisherigen gut gemeinten Reformversuche. Das können wir uns aber nicht leisten.

Tafel und Kreide, veraltetes Schulwissen, das in Frontalvorträgen vermittelt wird, sind keine gute Vorbereitung auf eine Welt, in der Kreativität, emotionale Kompetenzen und Problemlösungsfähigkeit gefordert sein werden. Die Zukunft Österreichs liegt in unseren Klassenzimmern und nicht in einer Villa auf Ibiza.

 

Zur Person:

Dr. Andreas Salcher (http://www.andreassalcher.com/) ist Unternehmensberater, Bestsellerautor und ein kritischer Vordenker in Bildungsthemen. Er begann seine Karriere 1987 in der Politik als damals jüngstes Mitglied des Wiener Landtags, dem er insgesamt 12 Jahre angehörte. Andreas Salcher ist Mitbegründer der „Sir Karl Popper Schule“ für besonders begabte Kinder. 2004 initiierte er die „Waldzell Meetings“ im Stift Melk, an denen sieben Nobelpreisträger und der Dalai Lama teilgenommen haben. Seit 2008 engagiert sich Andreas Salcher mit seinem „CURRICULUM PROJECT” für bessere Schulen.