FRED LUKS, 25. Mai 2018: Ausnahmezustand:

Unsere paradoxen Zeiten

Viel ist die Rede von Transformation – dabei will sie kaum jemand. Stattdessen verfallen viele der Illusion, man könne die westlichen Demokratien wieder in das selige 20. Jahrhundert zurückführen: mit mehr Wachstum und dickeren Autos, weniger Ausländern und Vielfalt.

Die Welt scheint aus den Fugen geraten zu sein. Von den tagesaktuellen Katastrophen-meldungen aus den unterschiedlichsten Weltregionen abgesehen, sind westliche Gesellschaften auf grundsätzliche Art überfordert. Beispiele sind die ungebremste Klimaerwärmung, die ungleiche Verteilung der Globalisierungsgewinne, grassierender Populismus, fremdenfeindliche und antisemitische Übergriffe, Terrorismus auch in Europa und Nordamerika, disruptive Technologieveränderungen. Wir erleben Eskalationsprozesse ungekannten Ausmaßes.

Veränderung…

Damit stehen wir vor der Wahl zwischen gestaltetem und erzwungenem Wandel. Denn: Veränderung passiert ohnehin, ob man das jetzt Innovation, schöpferische Zerstörung oder Evolution nennen will. Die Frage ist, ob Wandel – etwa in Form einer ungebremsten Klimaerwärmung – erlitten wird oder ob er – zum Beispiel in Form einer entschlossenen und „nachhaltigen“ Klima- und Energiepolitik – gestaltet wird.

Wenn man es nicht auf demokratische Weise schafft, in diesem Sinne aktiv an einer Verbesserung der Lage zu arbeiten, drohen allerschlimmste Folgen: sozial, ökologisch, wirtschaftlich, politisch, kulturell.

Zugespitzt wird diese Situation durch eine fundamentale Paradoxie, die für unsere Gegenwart charakteristisch ist: Wir müssen mit aller Kraft unsere (westliche) Lebensweise gegen ihre Feinde verteidigen, wenn wir auch in Zukunft in Frieden und Freiheit leben wollen – und gleichzeitig eben diese Lebensweise radikal verändern, wenn sie sozial, ökologisch und ethisch vertretbar sein soll.

Ein „weiter so“ ist in dieser Situation keine Option: Das ist ein gesellschaftlicher Ausnahmezustand. Ausnahmezustand ist auch ein Begriff für das weitverbreitete Gefühl, dass es so nicht weitergeht, nicht weitergehen kann. „Es“: die Art, wie der Westen Gesellschaft organisiert, die überragende Bedeutung des Ökonomischen, die Aneignung von Natur durch Industriegesellschaften, ihr Verhältnis zum Rest der Welt, die wachsenden Zweifel an bestehenden demokratischen Strukturen – und mit all dem auch die Art, wie wir leben.

…passiert ohnehin

Dass wir eine historisch bemerkenswerte Problemhäufung erleben und dass man Wandel besser gestaltet als erleidet, hat sich herumgesprochen. Von „Transformation“ ist mittlerweile sogar auf höchster Ebene die Rede: Auch Österreich bekennt sich offiziell zu den 17 Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen – und die sind ausdrücklich als Transformations-agenda formuliert, die unsere Welt grundlegend erneuern soll und in der von den notwendigen „kühnen und transformativen“ Schritten die Rede ist. Blöd nur, dass dieses Bekenntnis bislang keine nennenswerten Folgen gezeitigt hat. Man könnte sagen: Das Gegenteil ist der Fall, und das gilt für die meisten Länder der Welt. Das liegt daran, dass „Transformation“ natürlich sehr unterschiedlich interpretiert werden kann – aber auch daran, dass sie am Ende dann doch nicht gewollt wird.

Nicht zuletzt Wahlen und Abstimmungen der vergangenen Jahre zeigen, dass nicht ein sozialer und ökologischer Umbau unserer Art zu Leben und die gleichzeitige Verteidigung der offenen Gesellschaft angestrebt wird – sondern dass die weitverbreitete Illusion herrscht, man könnte westliche Demokratien wieder in die selige Vergangenheit des 20. Jahrhunderts gewissermaßen zurückbeamen: mehr Wachstum und dickere Autos, weniger Ausländer und Vielfalt.

Die guten alten Zeiten…

Vor allem populistische Kräfte versprechen in der Regel, die „guten alten Zeiten“ wieder zurückzuholen. Man könnte mit „Newsweek“ von einer „Politik der Nostalgie“ sprechen, die in den letzten Jahren große Siege eingefahren hat. Sowohl bei der Brexit-Kampagne in Großbritannien als auch in Donald Trumps Wahlkampf in den Vereinigten Staaten von Amerika, schreibt „Newsweek“, „lag der Schwerpunkt auf einer glorreichen Vergangenheit, die als Entwurf für eine glänzende Zukunft verkauft wurde.“

Leider ist dieser Politikansatz nicht nur in London und Washington überaus erfolgreich. Einer Nostalgiepolitik, die vergangenheitsorientiert unsere Zukunft aufs Spiel setzt, muss man sich entgegenstellen. Auch hier gilt: Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar. Und dazu gehört eben: Unsere Art zu leben ist global nicht verallgemeinerbar. Sie muss radikal verändert werden – und zwar in Richtung Zukunftsfähigkeit. Dass man nicht wissen kann, wie eine zukunftsfähige Gesellschaft aussieht, ist kein Grund zur Sorge, sondern ein Hoffnungsschimmer. Ausnahmezustand ist somit auch ein Begriff der Hoffnung und des Widerstandes. Das Entsetzen über die Zustände produktiv zu machen und in die Hoffnung auf etwas Besseres zu transformieren: Darum geht es. Eine solche Wende wird nicht von allein kommen, sondern erfordert Analyse, Kampf und Glück. Glück kann nur haben, wer kämpft. Und es kämpft sich sicher besser und erfolgreicher, wenn man sich die Situation klarmacht, die man verändern will.

…kommen nicht zurück

Wenn wir uns an einer Vergangenheit orientieren, in der vermeintlich alles besser war, wird sich unsere Lage drastisch verschlimmern. Fortschritt kann es nur geben, wenn man nicht von geschlossenen Grenzen und fadenscheiniger Ordentlichkeit träumt, sondern sich ohne Nostalgie auf die Komplexität und die Paradoxien der Gegenwart einlässt. 

Fred Luks lebt und arbeitet in Wien. Sein neues Buch „Ausnahmezustand“ ist vor kurzem bei Metropolis erschienen. Er bloggt unter www.fredluks.com.

https://derstandard.at/2000080429297/Ausnahmezustand-Unsere-paradoxen-Zeiten